Wie der Übergang zu einem nachhaltigen Wirtschaftsmodell gelingen kann

Schließen sich Suffizienz und Wachstum zwangsläufig aus? Ist der Übergang zu einem nachhaltigeren und verantwortungsbewussteren Wirtschaftsmodell ohne Wachstum überhaupt möglich? Carlo Thelen über die künftige Gestaltung des Wirtschaftsmodells in Luxemburg.

In den vergangenen Jahren scheint die Zahl der Wachstumsgegner sprunghaft angestiegen zu sein. In der öffentlichen Meinung gilt Wachstum heute als Hauptursache für eine ganze Reihe zivilisatorischer Übel, wie die Umweltzerstörung, der Klimawandel, die Schere zwischen Arm und Reich, die hohen Wohn- und Energiekosten, die täglichen Staus, der gesteigerte Druck in der Arbeitswelt, die gesellschaftliche Verwahrlosung oder die Wohnungsnot. An allen großen Herausforderungen soll das Wachstum schuld sein.

Folglich fordern viele politische Gruppen ein alternatives Wirtschaftsmodell. Ein Modell, das weniger oder gar nicht auf Wachstum setzt und in dem die Menschen trotzdem – oder gerade deshalb – ein glückliches Leben führen sollen. Wirklich realistisch ist das allerdings nicht.

Wachstum: die Wurzel allen Übels?

Auch wenn Wachstum nicht mit dem Wohlergehen einer Bevölkerung gleichsetzbar ist: Es ist eine wichtige Voraussetzung dafür, dass die Menschen in der Gesellschaft friedlich zusammenleben und sich entfalten können.

Nur durch Wachstum können die nachhaltige Finanzierung des Gesundheitswesens und der Renten, der Bildung, der immer wichtiger werdenden Sicherheit und Verteidigung sowie der Infrastrukturen für soziale, kulturelle und sportliche Aktivitäten gesichert werden. Wachstum schafft Arbeitsplätze und stellt allen Generationen eine gute wirtschaftliche Lage in Aussicht. Wirtschaftlicher Stillstand oder längere Rezessionsphasen führen dagegen unweigerlich zu sozialen Unruhen, Unzufriedenheit und einer höheren Verschuldung. Zudem geben sie Demagogen und Populisten Rückenwind, wenn diese mit vermeintlich einfachen Lösungen den Weg aus der Krise aufzeigen wollen.

Allein aus diesen Gründen sollte man sehr vorsichtig sein, bevor man Wachstum generell verteufelt oder als erstrebenswertes gesamtgesellschaftliches Ziel abschreibt.

Dennoch ist Wachstum nicht unfehlbar, und es wäre in höchstem Maße unverantwortlich, die unbestreitbaren Schattenseiten zu leugnen – besonders dann, wenn es sich dabei um quantitatives Wachstum handelt. Genauso unverantwortlich wäre es aber auch, die gesellschaftlichen Errungenschaften des Wachstums auszublenden. Denn in der oft emotional geführten Debatte vergessen viele, dass Wachstum in der Vergangenheit entscheidend dazu beigetragen hat, die Armut in der Welt zu reduzieren (die Zahl der Menschen, die in absoluter Armut leben, ist seit 1990 von zwei Milliarden auf etwa 700 Millionen gesunken) und die Lebensqualität der Menschen zu verbessern (cf. Entwicklung der Mittelschicht in China und Indien, Bildungs- und Gesundheitssysteme weltweit, Sozialversicherungen in Europa, …). In vielen Bereichen (cf. Forschung & Entwicklung, Informations- und Kommunikationstechnologien, Entwicklungen im Energie-Bereich, …)  hat Wachstum den Fortschritt sogar erst ermöglicht.

Auf diesen positiven Grundlagen braucht es neue Wege für die Art des Wachstums. Letzteres müsste in Zukunft qualitativer ausgerichtet werden und darauf abzielen, die Umweltbelastung und den Ressourcenverbrauch zu reduzieren, den Klimawandel zu bekämpfen und die soziale Gerechtigkeit zu fördern.

Wachstum bleibt eine notwendige Bedingung

Entgegen vielen Annahmen sind wirtschaftliches Wachstum und Umweltschutz durchaus vereinbar – wenn man es richtig macht. Denn ein qualitatives oder nachhaltiges Wachstum erfordert als „besseres“ – weil ressourcenschonenderes und effizienteres Wachstum – eine besondere Förderung. Die Grundidee dahinter ist einfach: Es geht im Wesentlichen darum, mit weniger Ressourcen mehr zu erreichen und somit Produktivitätsgewinne einzufahren, die die negativen Auswirkungen eines ungeregelten Wachstums auf ein Mindestmaß beschränken.

Erreichen ließe sich dieses Ziel durch Innovation, technischen Fortschritt, die Einführung umweltschonender Prozesse, neue Arbeitsstrukturen und ein verändertes Konsumverhalten. Um den Übergang zu einer klimaneutralen Wirtschaft zu beschleunigen, benötigen die Unternehmen bei der Aneignung nachhaltiger Produktions- und Arbeitsmethoden Unterstützung aus öffentlicher Hand[1].

Unter dieser Voraussetzung kann Luxemburg seinen Teil zur Erreichung der ambitionierten Ziele des „European Green Deal“ der EU und des „Plan national intégré en matière d’énergie et de climat“ (PNEC) schaffen. Die EU sieht vor, bis 2050 eine klimaneutrale Wirtschaft und bis 2030 eine Reduktion der Treibhausgasemissionen um 55% zu erreichen. Besonders in Luxemburg könnte dies durch Investitionen in erneuerbare Energien und grüne Technologien, die Umstellung auf eine Kreislaufwirtschaft und die Förderung nachhaltiger Mobilität gelingen.

Von einer nachhaltigen Wirtschaft profitieren auch Unternehmen

Die weit verbreitete Befürchtung, beim Übergang zu einem nachhaltigerem Wirtschaftsmodell könnten durch angepeilte Effizienzgewinne Arbeitsplätze verloren gehen, ist weitgehend unbegründet. Die Geschichte lehrt uns, dass eher das Gegenteil zutrifft: Die Förderung von neuen Technologien – in diesem Fall erneuerbare Energien, grüne Technologien und nachhaltige Produktions- und Arbeitspraktiken – wird unweigerlich neue Arbeitsplätze schaffen oder bestehende transformieren.

Die mit einem nachhaltigen Wirtschaftsmodell einhergehende Erhöhung der Energieeffizienz und die Reduzierung des Ressourcenverbrauchs kann außerdem ein entscheidender Wettbewerbsvorteil für Unternehmen sein, die frühzeitig auf diesen Wandel setzen. Nachhaltige Praktiken, wie erneuerbare Energien und Kreislaufwirtschaft, können langfristig wirtschaftliche Vorteile bieten, indem sie die Abhängigkeit von begrenzten Ressourcen reduzieren und die Wettbewerbsfähigkeit steigern.

Auf Wachstum verzichten zu wollen ist nicht nur realitätsfremd, sondern auch nicht umsetzbar: In einer offenen und freien Gesellschaft wäre es undenkbar, dass eine Regierung einen abrupten Stopp der demografischen oder wirtschaftlichen Entwicklung von oben herab diktiert. Der Mensch strebt danach, sich zu entwickeln und sich intellektuell und materiell zu entfalten.

Die Frage sollte also nicht sein: Wie können wir Wachstum stoppen? Sondern: Wie können wir Wachstum anders gestalten? So, dass seine negativen Auswirkungen auf ein absolutes Mindestmaß beschränkt oder gar ganz gestoppt werden !

Von Rifkins dritter industriellen Revolution zur „Luxembourg Stratégie“

Die Handelskammer hat sich schon früh mit der Frage eines alternativen und nachhaltigeren Wirtschaftsmodells auseinandergesetzt. So veröffentlichte sie bereits 2011 in ihrer Reihe „Actualité & Tendances“ einen Band zur nachhaltigen Entwicklung Luxemburgs[2]. Darin trug sie das Konzept des „qualitativen Wachstums“ als Lösungsansatz an die Öffentlichkeit heran.

2013 rief die Handelskammer die Bürgerdebatte 2030.lu ins Leben. An ihrem Ende stand die Veröffentlichung einer Sammlung von 355 Ideen zur Bewältigung der großen Herausforderungen für die Zukunft Luxemburgs. Die Initiative 2030.lu mündete in der Gründung des Think Tanks IDEA. Dieses soll Ideen für eine nachhaltige Zukunft Luxemburgs im Rahmen eines holistischen Ansatzes erarbeiten und eine breite öffentliche Debatte fördern.

Im September 2015 kündigten die Handelskammer und das Wirtschaftsministerium zusammen mit IMS Luxembourg die Durchführung einer umfassenden strategischen Studie mit dem Titel „The Third Industrial Revolution Strategy (TIR)“ an. Ziel war die schrittweise Einführung eines Wirtschaftsmodells im Großherzogtum, das auf dem Verschmelzen von Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT), Energie und Verkehr in einem intelligenten Netz beruhen sollte. Das Resultat der Studie aus der Zusammenarbeit mit dem Wirtschaftswissenschaftler und Zukunftsforscher Jeremy Rifkin wurde der Öffentlichkeit am 14. November 2016 auf dem „Luxembourg Sustainability Forum“ vorgestellt. Sie ist das Ergebnis eines partizipativen Prozesses mit neun Arbeitsgruppen und mehr als 300 sozioökonomischen Akteuren.

In den Jahren 2020 und 2021 erklärte der neue Wirtschaftsminister Franz Fayot (LSAP), die ursprüngliche Perspektive des TIR-Prozesses um den Klimawandel und die Reduzierung der Treibhausgasemissionen erweitern zu wollen. Damit sollten die Widerstandsfähigkeit der Wirtschaft und der Gesellschaft steigen. In Zusammenarbeit mit dem Wirtschaftsministerium führten die Handelskammer und IMS Luxemburg 2021 eine Bestandsaufnahme durch, in der sie die Fortschritte von 49 strategischen Maßnahmen aus der TIR-Studie bewerteten. Und es hat sich sehr viel bewegt, einige Initiativen wurden bereits angestossen, andere sogar schon umgesetzt.

Die neue Abteilung „Luxembourg Stratégie“, die das Wirtschaftsministerium anschließend bei sich ansiedelte, wählte einen anderen Ansatz: Sie gab eine zusätzliche Studie in Auftrag, die sich unter anderem auf die Entwicklung neuer möglicher Zukunftsszenarien stützt.

Die Handelskammer hofft, dass dieser neue Ansatz den positiven Resultaten des TIR-Prozesses Rechnung tragen kann. Eigentlich sollten sich alle Stakeholder des Landes längst – wie im TIR-Prozess geschehen – darauf geeinigt haben, welche Lösungen vorangetrieben werden sollen, damit der Übergang zu einem nachhaltigeren Wirtschaftsmodell möglichst schnell gelingen kann. Der eben beschriebene Wegwechsel und immer neue Initiativen, die sich der Gestaltung des künftigen Luxemburger Modells verschreiben (cf. „Luxembourg in Transition“, „Klimabiergerrot“, „Plattform für Klimaschutz und Energiewende“, …) kosten viel Zeit, beanspruchen immer die gleichen stakeholders und riskieren zu Reibungsverlusten zu führen.

Auch der Warenkorb muss nachhaltig werden

Gelingen wird der Übergang zu einem neuen Wirtschaftsmodell nur dann, wenn alle gemeinsam auf dieses Ziel hinarbeiten. Erforderlich ist also eine enge Zusammenarbeit zwischen der Regierung, den Unternehmen und der breiten Öffentlichkeit.

Als ein wichtiges Instrument betrachtet die Handelskammer die Einführung eines “nachhaltigen Warenkorbs” für die Berechnung des Verbraucherpreisindexes. Insbesondere fossile Energieträger (Kraftstoffe, Heizöl, Gas), gesundheitsschädliche Produkte (Alkohol, Tabak) und Abgaben, die nach dem Verursacherprinzip eingeführt werden, sollten aus einem nachhaltigen Warenkorb ausgeschlossen werden.

Die Kreislaufwirtschaft ist für jeden erreichbar

Luxemburg hat bereits vor einigen Jahren einen umfassenden Prozess eingeleitet, um von einer extensiven linearen Wirtschaft auf ein nachhaltigeres Wirtschaftsmodell umzusteigen. Die Kreislaufwirtschaft kann Arbeitsplätze, Aktivitäten und Produkte schaffen, weil sie neue Praktiken und Geschäftsmodelle erfordert. Dazu gehören das Aufkommen neuer Berufsbilder im Bereich der nachhaltigen Beschaffung („sustainable procurement“), die Schaffung neuer Märkte für gebrauchte und wiederaufbereitete Produkte, das Ersetzen von Neukäufen durch Mietdienstleistungen („product as a service“) und Fahrgemeinschaften.

In der EU soll die Einführung dieses neuen Wirtschaftsmodells bis 2030 zu einer Steigerung der Ressourcenproduktivität um mehr als 30% und zur Schaffung von mehr als 4 Millionen Arbeitsplätzen führen. Diese Chance gilt es zu nutzen, um Luxemburgs stagnierende Produktivität wieder anzukurbeln.

House of Sustainability: die zentrale Anlaufstelle für nachhaltige Entwicklung

Seit Jahren unterstützt die Handelskammer die hiesigen Unternehmen in ihren Bemühungen, Kreislaufprinzipien in ihre Produktions- und Managementprozesse und ihre Geschäftsmodelle einzubeziehen. In enger Zusammenarbeit mit der Handwerkskammer und in Partnerschaft mit dem Institut national pour le développement durable et la responsabilité sociale des entreprises (INDR) hat die Handelskammer das “House of Sustainability” ins Leben gerufen. Es bildet eine zentrale Anlauf- und Beratungsstelle für Unternehmen, die am nachhaltigen Wandel interessiert sind. Die Handelskammer wird sich auch weiterhin dafür einsetzen, dass Luxemburg und seine Unternehmen zu Vorreitern einer nachhaltigen Wirtschaft werden. Wachstum ist keine Fatalität. Wachstum ist ein fortwährendes Streben. Und dazu gehört auch gelebte Nachhaltigkeit.

Forum – Mai 2023 – N°431


[1] https://tinyurl.com/4nmshsuy

[2] https://www.cc.lu/toute-linformation/publications/download/12/25147

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